VON BINGEN NACH BAGDAD

Hildegard von Bingen begegnet der orientalischen Welt

O cruor sanguinis – Hildegard von Bingen

Die Musik Hildegards und die des Orients scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben. Doch stammt unsere westliche Musik auf der Gregorianik ebenso aus dem Mittelmeerraum wie die orientalische, d.h. sie haben die gleichen Wurzeln, was in den ältesten Gregorianischen Gesängen auch durchaus noch hörbar ist. Dieser Musik zugrunde liegen Skalen: die Modi im Westen und Makams im Osten. Aus ihnen entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte die Dur- und Molltonarten. Zur Zeit Hildegards waren in unseren Breiten noch die Modi und das einstimmige Singen üblich. Der Westen entschied sich später jedoch für einen anderen Weg: die Polyphonie. Der Orient dagegen blieb beim „cantus planus“ und verfeinerte ihn über die Jahrhunderte. Es entstanden komplizierte Skalen mit Achtel, Siebenachtel und Vierteltönen.

Hildegard (1098-1179) von Bingen war eine der außergewöhnlichsten Frauen ihrer Zeit. Die rheinische Äbtissin schrieb eine Unmenge an Werken, die sich mit Fragen der Theologie, mit ihren eigenen Visionen, mit der Musik, der Natur und der Medizin befassten. Hildegard war die erste deutsche Naturforscherin, die erste schreibende Ärztin und Heilerin, Komponistin, Malerin, Theologin und Äbtissin der von ihr gegründeten benediktinischen Klöster am Rhein. Als geistige Führerin ihrer Zeit erteilte sie Päpsten und Kaisern Rat und Weisung und scheute auch nicht die Kritik an deren Entscheidungen. "Prophetissa teutonica" hat man sie schon zu Lebzeiten genannt, eine Sybille vom Rhein.

Hildegards kompositorische Fähigkeiten – Schöpfungen aus ihren Visionen – waren seit den späten 1140er Jahren bekannt. Im 12. Jahrhundert, einer Zeit, in der die meisten Werke von anonymen Autoren stammen, hinterließ Hildegard den größten Bestand eindeutig zuschreibbarer Musik: liturgische Gesänge, die in der Klostergemeinschaft Teil des täglichen Stundengebetes waren und die später unter dem Titel „Symphonia armoniae celestium revelationum“ (Symphonie der Harmonie himmlischer Offenbarung) zu einem Zyklus zusammengefasst wurden.

Im Gesang erkennt Hildegard eine Möglichkeit, die seelischen und emotionalen Kräfte des Menschen zu wecken und auf sie einzuwirken, denn die Seele des Menschen ist nach göttlichem Abbild klingend gestaltet und damit „symphonisch“ gestimmt. Sie ist Abbild des gewaltigen Kosmos, einer „musica mundana“, der Harmonie aller Sphären: „Und so hat jedes Element seinen eigenen Klang, einen Urklang aus der Ordnung Gottes.“ Auch des Menschen Seele hat „tief in sich diesen schön geordneten Urklang, und sie ist selber die Melodie des so schönen Klanges“.

Hildegard nun steht mit ihren Kompostionen im 12. Jahrhundert genau an dem europäischen Scheidepunkt zur Mehrstimmigkeit: sie ist eine der letzten die im Cantus Planus komponierten, ihn verfeinerte, erweiterte, neue Klangräume suchte und fand. Sie experimentierte mit den Mittel ihrer Zeit. Hier könnte man sich auch eine europäische Entwicklung vorstellen hin zu ähnlichen Skalen, wie wir sie heute noch in der orientalischen Musik finden.

So wird die Musik des Mittelalters eine Brücke zur orientalischen Musik. Es entsteht dabei ein Dialog nicht nur zwischen den Kulturen sondern auch zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Programm

O eterne Deus – Hildegard von Bingen (1098-1179)
O ewiger Gott, neige dich uns zu, glühe auf in jener Liebe, auf daß wir lebendige Glieder werden, gebildet in gleicher Liebe, aus der du gezeugt deinen Sohn in der ersten Morgenröte noch vor aller Kreatur. Schau an unsere Not, die über uns kommt, und nimm sie hinweg von uns um deines Sohnes willen, und führe uns in die Freude der Seligkeit.

Karitas – Hildegard von Bingen / Dominik Schneider
Von der Liebe bis hoch zu den Sternen überflutet die Liebe das All. Sie ist liebend zugetan allem, da dem König dem höchsten sie den Friedenskuß gab.

Psalm 121
Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher komt mir Hilfe? Hilfe kommt mir vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Der Herr behüte dich vor allem Unheil, er behüte dein Leben. Der Herr behüte dein Gehen und dein Kommen von nun an auf ewig.

Djozz – Bassem Hawar

O rubor sanguinis – Hildegard von Bingen
Du rotes Blut, das aus der Höhe herab geflossen ist, welche die Gottheit berührt hat. Du bist die Blüte, der das eiskalte Zischen der Schlange nichts anhaben kann.

Psalm 114 – Tonus peregrinus
Als Israel aus Ägypten zog, das Haus Jakob aus dem Volk fremder Sprache, da wurde Juda sein Heiligtum, Israel sein Herrschaftsgebiet.

Cum erubuerint – Hildegard von Bingen
Wenn uns Scham übermannt, immerzu auf der Bahn der Sünde, wie gestrauchelte Pilger: dann rufst du sie, mit hoher Stimme und hilfst du uns auf, uns Menschen, nach dem tückischen Fall.

Psalm 147
Jerusalem, lobe den Herrn, lobe, o Sion, deinen Gott. Er hat deiner Tore Riegel gefestet und deine Söhne gesegnet, die in dir sind. Er hat deinen Grenzen Frieden gewährt, mit der Kraft des Wassers sättigt er dich.

O Jerusalem – Hildegard von Bingen
O Jerulsaem, du goldene Stadt, geschmückt mit dem Purpur des Königs! Du bist geschmückt vom Morgenrot, strahlst auf im Glühen der Sonne! Deine Türme scheinen klar wie Gold und strahlen hell vom Purpurglanz!

Lami – Bassem Hawar

O cruor sanguinis – Hildegard von Bingen
O grausame Bluttat, die zum Himmel schrie, die alle Elemente in Aufruhr versetzte: voll Schrecken schrien sie klagend auf, weil das Blut des Schöpfers sie selbst benetzte. So heile uns von unserem Schwermut und Erschöpfung!

Arabi – Bassem Hawar

Psalm 91
Wer wohnen darf im Schutz des Höchsten, der ruht im Schatten des Allmächtigen. Ein Schild und ein Schutzwall ist seine Treue. Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten.

O tu illustrata – Hildegard von Bingen
O du, erleuchtet vom göttlichen Licht, du lichte Jungfrau Maria, vom Wort Gottes durchflutet, erblühte dein Leib, da Gottes Geist in dich einging, der dich durchwehte, und dies in dich einsaugte, was Eva von sich geworfen, die die Reinheit verlor durch sündige Berührung aus teuflischer List.